Thesen zu „Stereotypien (S)“ und „selbstverletzenden Verhaltensweisen (SVV)“ (Original 1978)
April 21, 2019Die 5 Thesen mit ergänzenden und auf die Arbeit mit Menschen mit schweren stereotypen und selbstverletzenden Handlungen verweisenden Ausführungen von 1978 sind ein die lange vorausgegangene Beschäftigung mit diesen Fragen zusammenfassender Versuch, sie als sinnhafte und systemhafte autokompensatorische Handlungen zu verstehen und kurz zu beschreiben. Sie sind als Folge oft langjährig bestehender innerer und vor allem äußerer Bedingungen sozialer und bildungsmäßiger Deprivation und Isolation in Heimen und Anstalten anzusehen, die für den Menschen eine lebenserhaltende und psychisch stabilisierende Funktion haben. Das entgegen den bis noch weit in die 1970er Jahre hineinragenden Auffassungen, dass sie Ausdruck und Symptomatik vorliegender Behinderungen oder psychischer Erkrankungen seien. So erinnere ich eine Arbeit von Zetkin & Schaldach über Stereotypien von 1978, dass diese im psychopathologischen Sinne ein leeres, automatenhaftes, zweckloses Wiederholen von Worten, Sätzen (Sprachstereotypien) oder Bewegungsvorgängen sind. Jakob Kläsi (1883-1980) schreibt 1922: „Unter Stereotypien verstehe ich Äußerungen auf motorischem, sprachlichem und gedanklichem Gebiet, die von einer Person oft während sehr langer Zeit immer in der gleichen Form wiederholt werden, und die, vom Gesamtgeschehen vollständig losgelöst, d.h. autonom, weder eine Stimmung ausdrücken, noch sonst einem Zweck in der (objektiven) Wirklichkeit angepasst sind“ (1922, S. 1). Allerdings gibt Kläsi schon 1922 zu bedenken, ob Stereotypien nicht sinnvolles Handel behinderter Menschen im Sinne ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt sein könnten … ein beachtlicher Gedanke, der von der Heil- und Sonderpädagogik und der Psychiatrie geflissentlich übersehen wurde.
Die Forschungslogik war eine einfache: S und SVV konnte man vor allem bei Menschen in Heimen und Anstalten beobachten. Sie haben alle Diagnosen in Richtung Behinderung (Imbezillität, Idiotie nach damaligen Begriffen) oder psychischer Erkrankungen. Der Schluss liegt nun nahe, dass die Behinderungen und psychischen Erkrankungen Ursachen für diese Symptomatik sind. Die hochgradig isolierenden Lebensumstände der betroffenen Personen blieben negiert!
Diese nun über vier Jahrzehnte alten Hinweise, basierend auf der Befreiung langjährig hospitalisierter Menschen aus ihren Zwangsinklusionen und der Arbeit mit ihnen im Sinne ihrer Integration in das Bildungssystems (damals nur über Sonderschulen möglich) und in weitest möglich reguläre Lebenszusammenhänge (dann im Setting der SDKHT stationär an der Universität Bremen aber auch in Institutionen) haben noch heute ihre Bedeutung und Aktualität – nicht nur als historisches Dokument.
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