Autismus

August 9, 2020

Der Begriff Autismus findet schon sehr lange eine sehr inflationäre Anwendung in Bezug auf allgemein-gesellschaftliche Entwicklungen, die, kurz gefasst, mit der Zerstörung des Gemeinsinns und Verlustes anerkennungs- und achtungsbasierter sozial-beziehungsmäßiger Bedürfnisse und Kompetenzen einhergehen und, wie Reckwitz betont, zu einer »Gesellschaft der Singularitäten« führte. Bezogen auf Menschen mit Autism-Spectrum-Disorder (ASD) zeigten sich parallel zu den angesprochenen allgemeinen Entwicklungen inflationäre Tendenzen der Zuordnung und Zuschreibung einer solchen Diagnose in nahezu endemischen Ausmaßen. Damit einher ging aber auch eine weitgehende Verengung der Orientierung auf Menschen mit ASD, die früher dem Asperger-Syndrom zugeordnet wurden – heute meist als »Aspi« bzw. high-leveld oder high-functioning bezeichnet – und mittels ihrer so genannten Sonderbegabungen imponieren konnten. Sie werden selbst in pädagogischen Feldern in Kontexten der Inklusion wahrgenommen und finden z.T. Zugang ins Regelschulwesen. Jene zwei Drittel der Population, die früher dem Kanner-Syndrom zugeordnet wurden, blieben im Dunkel der Sonderinstitutionen, wenn sie dort Aufnahme finden und verweilen dürfen; ansonsten leben sie in Heimen, psychiatrischen Abteilungen oder in ihren Familien – sie sind die Vergessenen. Man kann den Beginn dieser Entwicklung nahezu mit der zunehmenden Bekanntheit des 1988 angelaufenen Films „Rain Man” in Zusammenhang bringen.

Aber auch jenen »Aspis«, die es meist unter der Prämisse der Integration/Inklusion ins Regelschulwesen schafften, ist für ihre Bildungslaufbahn kein roter Teppich ausgebreitet. In Orientierung auf ihre kognitiven Fähigkeiten stellt sich in Kindergärten und den Schulen schnell Ernüchterung ein, wenn die ihrer Persönlichkeitsstruktur eigenen affektiv-emotionalen und sozial-kommunikativen Verhaltensweisen in Erscheinung treten und diese Kinder und Jugendlichen pädagogisch und/oder therapeutisch anspruchsvoll werden oder einer Assistenz bedürfen. Die oft anzutreffende Auffassung der Erziehungs- und Lehrpersonen, mit diesen Kindern und Schülern wie üblich zielgleich unterrichten zu können und ihrer Persönlichkeitsstruktur – sofern man davon überhaupt eine ausreichende Ahnung hat – curricular, didaktisch, methodisch, unterrichtsorganisatorisch und therapeutisch nicht entsprechen zu müssen, bricht schnell zusammen und offenbart pädagogisch-therapeutische Ohnmacht und Inkompetenz. Es resultiert (können es sich die Eltern leisten) der Verweis in private Regelschulen oder ins Sonderschulwesen und damit brechen in der Regel auch Fokussierungen hinsichtlich einer späteren Berufsfindung und Arbeitstätigkeit in ET-Branchen zusammen, die ihrerseits nicht per se für alle Personen mit ASD als geeignet angesehen werden können.

Mit meinem Beitrag „Autismus”, der 2014 im Band 10 (Emotion und Persönlichkeit) des Enzyklopädischen Handbuchs der Behindertenpädagogik (Behinderung, Bildung, Partizipation) auf den Seiten 91-125 erschienen ist, möchte ich Sie zu einer – aus meiner Sicht in der Pädagogik/Heil- u. Sonderpädagogik längst verloren gegangenen und in der Inklusion noch nicht angekommenen – wissenschaftlich fundierten und vernünftig geführten Befassung mit der Frage der ASD und einer Erziehung und Bildung aller aus dem Autismus-Spektrum im regulären Erziehungs-, Unterrichts- und Bildungssystem auf allen seinen Ebenen und den daraus resultierenden strukturellen Konsequenzen anregen.

Da der Band 10 „Emotion und Persönlichkeit” mit seinen für Fragen der Inklusion hoch bedeutenden Beiträgen seitens des Kohlhammer-Verlags vom Markt genommen wurde und in Anbetracht eines sich auch an Universitäten und Hochschulen, bis hinein in die LehrerInnen-Bildung und selbst auf Ebene von Dissertationen und in der Forschungspraxis breit machenden Ahistorismus, der aus meiner Sicht bereits als eine moderne Form der Bücherverbrennung bezeichnet werden kann, möchte ich diesen Übersichtsartikel weiterhin interessierten Leser*innen zur Verfügung halten. [GF; 11.08.2020]

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